Biberach/Wangen (sle) - Donnerstagmorgen, 7.30 Uhr. Unterrichtsbeginn in der Biberacher Waldorfschule. Das in pastellig-verwaschenem Grün gehaltene Klassenzimmer der fünften Klasse wirkt freundlich und hat mit seinem Parkettfußboden und dem Bücherregal etwas von einem Wohnzimmer. Durch große Fenster flutet viel Licht durch die drei Tischreihen. An die Wand neben der Tür sind um den Schriftzug „Die schwarzen Schiffe vor Troja“ herum farbenfrohe Aquarellbilder gepinnt. In einer Ecke steht ein altes Klavier. „Ich schaue in die Welt, in der die Sonne leuchtet, in der die Sterne funkeln, in der die Steine lagern“,“, schallt es aus 24 Fünftklässler-Kehlen. Klassenlehrerin Nadine Fleisch, deren dunkler Pony ihr schmales, dezent geschminktes Gesicht betont, spricht den Morgenspruch im Chor mit. Mit einem wachen Blick durch die feinumrandete Brille scheint sie jedes Kind noch einmal einzeln zu begrüßen. Aus den nach hinten gesteckten Haaren wippt neckisch eine Strähne im Takt mit. Ihre dunkelblaue Bluse fällt locker über die weiße Jeans. „Die Pflanzen lebend wachsen, die Tiere fühlend leben, in der der Mensch beseelt, dem Geiste Wohnung gibt.“
Viele Dinge, die man in der breiten Öffentlichkeit über Waldorfpädagogik zu wissen scheint, sind klischeebehaftet. Öko, keine Noten, weltfremd, Förderschule sind nur einige Schlagworte, die mit Waldorf in Verbindung gebracht werden. Tatsächlich läuft einiges anders als an Regelschulen. Zwölf Jahre lernen die Schüler in der Regel in einer festen Klassengemeinschaft, ohne in verschiedene Leistungsstufen unterteilt zu werden. „Sitzenbleiben“, also Wiederholen einer Klassenstufe, ist nicht vorgesehen. „Anstelle der Noten stehen individuelle Beurteilungen, in denen die Lehrer gleichermaßen auf die Persönlichkeitsentwicklung und die Lernfortschritte ihrer Schüler eingehen“, schreibt der Bund der Freien Waldorfschulen in einer Infobroschüre. Es zähle nicht allein der Wissenstand, sondern die Gesamtentwicklung in einem bestimmten Zeitraum. „Kinder dürfen länger Kinder sein“, bringt es Neill Mc Closkey, Englisch- und Kunstlehrer an der Waldorfschule Wangen, auf den Punkt.
Stockbrot am Lagerfeuer
Nadine Fleisch steckt die drei Teile ihrer großen C-Flöte zusammen, während die Schüler ihre kleineren Exemplare aus den selbstgestrickten Regenbogenfarben-Hüllen schälen. Ohne Musiknoten, den Blick konzentriert auf die Finger ihrer Lehrerin gerichtet, spielen sie zwei Melodien. Rosa, Lia und Alina gelingt es sogar, eine zweite Stimme über den Klangteppich ihrer Klassenkameraden zu legen, während sie sich etwas abseits aufgestellt haben. Nicht jeder Ton sitzt schon perfekt, aber davon lassen sich die jungen Musiker nicht aus dem Takt bringen.
Von draußen dringt der Geruch von Lagerfeuer ins Klassenzimmer. Die Waldorfkindergartenkinder der Biberacher Sonnengruppe, die gleich nebenan ihren Garten haben, grillen Stockbrot. „Wir haben heute unseren Brötchentag“, erklärt Annika Kühnbach, die auf einem Baumstamm an der Feuerstelle sitzt. Auf ihren Oberschenkeln balanciert die Erzieherin ein Holzbrett mit Butter und selbstgemachter Marmelade, die sie auf die Backwerke streicht. Wegen des schönen Wetters habe man das Backen kurzerhand nach draußen verlegt, erklärt sie. Im Waldorfkindergarten folge alles einem festen Tages-, Wochen- und Jahreszeitenrhythmus mit immer wiederkehrenden Ritualen. Das gebe den Kindern Sicherheit. „Wann ist meines fertig?“, fragt ein Mädchen, dass mit einem handgefilzten Sitzkissen auf seinem Platz herumrutscht, während es den Teigklumpen an einem langen Stock über das Feuer hält. „Ein bisschen dauert es noch“, beschwichtigt Kühnbach.
Ziel der Waldorfschulen sei es, „gleichermaßen intellektuelle, kreative, künstlerische, praktische und soziale Fähigkeiten bei den Kindern und Jugendlichen zu entwickeln“, schreibt der Bund der Freien Waldorfschulen. Handarbeit, Werkunterricht, Theater und Projektarbeiten sind zentrale Bestandteile des Unterrichts, der sich an Kinder aller Begabungsrichtungen richtet. „In der ersten Klasse lernen alle Kinder stricken. Das verknüpft die Synapsen“, erklärt Heike Innig, die an der Biberacher Schule handwerkliche und künstlerische Fächer unterrichtet. „Wer es handwerklich gut hinbekommt, kommt auch kognitiv klar.“
Ein Heptagon mit Flachbildschirm
In der Wangener Waldorfschule starten Josephine, Maurus und ihre Klassenkameraden an diesem Mittwoch etwas später in den Morgen. Die Zehntklässler wechseln nach dem Klingeln zunächst einmal den Klassenraum, um dem Dröhnen eines Presslufthammers zu entgehen. Das über 40 Jahre alte Schulgebäude wirkt mit seinen vielen schiefen Ebenen und dem verwinkelten, wuchtigen Dach ein bisschen wie eine steingewordene Kinderzeichnung und benötigt an einigen Stellen eine Renovierung. Auch in dem Klassenzimmer in Form eines Heptagons, zu dem die Jugendlichen nun schlurfen, scheint es keinen rechten Winkel zu geben. Jedes der drei Fenster hat eine andere Form. Lediglich der Flachbildschirm, der über der Tafel hängt, ist rechteckig. Die Lernbegeisterung der ersten Jahre ist inzwischen einer gewissen Lethargie gewichen, aus der Geschichtslehrer Matthias Buchholz seine Schüler nun zu reißen versucht. Den Morgenspruch lässt er heute weg und steigt gleich in die Geschichte des Kaiserreichs ein. Stühle rutschen über den Boden, Schultaschen werden durchwühlt, der ein oder andere huscht noch einmal kurz aus dem Klassenzimmer, um sich einen Kaffee im Pappbecher zu holen. Dann schlagen die Schüler Seite 182 in ihrem Lehrbuch auf.
Da Waldorfschulen, wie alle freien Schulen in Deutschland, zu den Privatschulen zählen, müssen Eltern Schulbeiträge bezahlen. Ihre Höhe ist von Schule zu Schule verschieden und sie werden mal als Festbetrag, mal einkommensabhängig erhoben. An den meisten Schulen gibt es ein solidarisches Modell, über das sozial schwache Familien bei den Schulbeiträgen unterstützt werden.
Eurythmie für mehr Raumgefühl
Nach einer Leseeinheit diskutieren die Wangener Zehntklässler über den Aufstand der Herrero gegen die deutschen Kolonialherren in Namibia. „Warum kann man das deutsche Vorgehen als Völkermord bezeichnen?“, fragt Geschichtslehrer Buchholz in die Runde. Die Hände in den Hosentaschen seiner Jeans, dazu ein einfaches weißes Baumwoll-T-Shirt, geht er zwischen den Reihen herum und schaut Jakob und Kairo über die Schulter. „Warum wissen wir eigentlich so wenig darüber? Wir sind doch sonst über alles gut informiert“, weitet Buchholz die Frage noch etwas aus. Mehrere Schüler melden sich zu Wort. Andere kritzeln auf ihren Schreibblöcken herum oder holen sich noch einen Kaffee. Später steht noch Eurythmie auf dem Stundenplan.
Eurythmie ist wie kaum ein anderes Fach mit der Waldorfpädagogik verbunden und gleichzeitig schwer zu erfassen. Die Bewegungselemente, die meist mit Musik oder Gedichten dargeboten werden, lassen sich mit Tanzen vergleichen. „Eurythmie stärkt das Raumgefühl“, erklärt Heiko Neumann, der Deutsch und Geschichte an der Biberacher Waldorfschule unterrichtet. „Und das Taktgefühl – auch im übertragenen Sinn“, fügt seine Kollegin Innig hinzu. Mit den Händen und dem ganzen Körper werden in Eurythmie Laute sichtbar gemacht – daher das Klischee, Waldorfschüler lernten ihren Namen zu tanzen.
Alle staatlichen Abschlüsse
Für viele Waldorfschüler gehört der Umgang mit Vorurteilen dazu wie das tägliche Busfahren. Sie sind genervt. „Viele gehen davon aus, dass das eine Sonderschule ist“, sagt Nils, der in Wangen die 12. Klasse besucht. „Sie glauben, dass wir Bäume umarmen“, erzählt seine Klassenkameradin Isabelle. Dabei sind sie fast alle froh, „Waldis“ zu sein: „Wir haben hier viel mehr Bühnenerfahrung, als an anderen Schulen“, sagt Lena. Ihre Freunde sehen vor allem die vielen Praktika als die wertvollsten Erfahrungen an. „Wir haben den Vorteil, dass wir alles wirklich einmal selbst gemacht haben“, sagt Ron. Nur sein Klassenkamerad Jonas würde rückblickend lieber auf eine andere Schule gehen: „Der technische Bereich ist nicht so stark vertreten“, sagt er.
Waldorfschulen bieten abhängig von den Fähigkeiten eines Schülers grundsätzlich alle staatlichen Abschlüsse an. Die Prüfungen werden jedoch teilweise etwas später abgelegt als an einer Real- oder Gemeinschaftsschule. Das hängt mit vielen Praktika in Landwirtschaft, Handwerksbetrieben und sozialen Einrichtungen sowie mit den vielen künstlerischen und handwerklichen Fächern zusammen, die die Schüler haben. In der zwölften Klasse machen alle Schüler außerdem einen aus Projektarbeit, Theaterspiel und weiteren Elementen zusammengesetzten Waldorfabschluss. Für die Abitur- oder Fachhochschulreife-Vorbereitung wird noch ein 13. Schuljahr angehängt.
Noch eine kurze Probe für die Schulfeier im Foyer der Biberacher Schule, bei der die Fünftklässler ein langes Gedicht über den Rhein sprechen, dann stehen Buchpräsentationen an. Hanna darf als erste. Sie hat „Skogland“ von Kirsten Beul gelesen. „Ich kann dir den Rat geben, viel, viel langsamer zu lesen, auch wenn die Stelle wirklich sehr spannend ist“, rät ihr Nadine Fleisch. Laurin hat sich „Der kleine Hobbit“ ausgesucht. „Es ist ziemlich fantasievoll geschrieben und ich habe es gern gelesen, auch wenn es etwas langatmig ist.“ Als künstlerischen Beitrag zu seinem Buch „Das rote U“ will Adrian einen Film drehen. Die Kulisse dafür stehe schon, berichtet er. Alma baut ein Haus, hat aber noch Zweifel, wie sie die Ziegel machen soll. „Hat jemand einen Tipp, vielleicht in Erinnerung an unsere Hausbauepoche?“, fragt Nadine Fleisch. „Aus Ton, da könntest du die Ziegel einritzen“, tönt es aus einer Ecke. „Aus Birkenrinde, das geht auch gut“, ruft jemand anderes, bevor sie in die Pause strömen.